Ersatzreifen hat sie immer dabei. Die Strassen voller Löcher, kaputte Fahrbahnen, Raketensplitter, unpassierbare Brücken, die zu langen Umwegen zwingen, kurzum: eine Strapaze für Mensch und Gefährt. Was Viktorija Shapoval so beschreibt, ist ihre Route quer durch die Ukraine, die sie van März 2022 bis Juni 2023 achtmal gefahren ist und weiter regelmässig fährt: 2300 Kilometer von Heiden, dem Startort, über Deutschland und Polen bis zum Ziel Tscherkassy, Viktorijas Heimatstadt im Zentrum der Ukraine, am Dnipro gelegen, einige hundert Kilometer südlich der Hauptstadt Kiew.
Als wir uns zusammen mit Stefan Sonderegger, dem Präsidenten der Steinegg Stiftung, in Heiden treffen, an einem heissen Vorsommertag, steht wieder eine solche Fahrt bevor. Wenige Tage zuvor ist Viktorija zurück aus der Ukraine hier eingetroffen, jetzt stapeln sich in einer Scheune der früheren Sägerei Sonderegger in der Ebni in Kisten und Säcken Hilfsgüter aller Art. Eine der Kisten enthält Blazer für Frauen, in einer anderen sind Jacken verpackt, alles fein säuberlich beschriftet, damit Auslad und Verteilung am Zielort möglichst speditiv vor sich gehen. Eine Kiste enthält Spielwaren, auch Koffer sind vollgestopft mit «Klamotten», wie Viktorija sagt, und in einem der Kartons sind, noch in der Originalverpackung, leichte Hemden gestapelt. Leicht – sodass man die Ärmel im Spital oder Lazarett ohne Umstände abreissen könne.
Die Frage, was am dringlichsten benötigt werde im kriegsversehrten Land, beantwortet sie mit einem einzigen Wort: «alles». In den ersten Monaten des Kriegs waren medizinische Produkte Mangelware: Verbandmaterial, Medikamente wie Schmerzmittel und Antibiotika, Blutstopper. Inzwischen lieferten andere Staaten medizinische Güter, die Regale in den Apotheken seien wieder besser gefüllt, berichtet Viktorija. Als der erste Kriegswinter nahte, besorgten sie und ihre Schweizer Helferinnen und Helfer Thermowäsche, Wärmesohlen, warme Kleider aller Art für die Zivilbevölkerung und die Soldaten. Auch Esswaren, Geschirr, Matratzen, Schlafsäcke, Haushaltsartikel, Tierfutter und so weiter sei knapp – viele ihrer Landsleute wurden ausgebombt, müssen an fremden Orten einquartiert werden und haben ihre Wohnungen und all ihr Hab und Gut verloren. Selbst ein Stromgenerator hat schon unter Viktorijas Obhut den Weg aus der Schweiz in die Ukraine gefunden. Und Kerzen – unverzichtbar bei den regelmässigen Stromausfällen, die die Bevölkerung durchmacht.
Die dringlichsten Hilfsgitter werden in hiesigen Geschäften möglichst günstig gekauft. Für Thermowäsche etwa hätten sie alle möglichen Läden bis zum Liq Shop der Armee abgeklappert; «wir haben praktisch die Ostschweiz leergekauft», sagt Viktorija. Vieles kommt darüberhinaus durch Sach- und Geldspenden zusammen, das Schneeballprinzip funktioniert, die Aktion hat sich herumgesprochen. Eine Frauengruppe aus der Region strickt für die Ukraine.