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Appenzellerland
04.11.2023

Von Heiden nach Tscherkassy

Viktorija Shapoval
Viktorija Shapoval Bild: Appenzellische Jahrbücher, Band 150 (2023)
Mit dem Zorn der Bienen: Die Ukrainerin Viktorija Shapoval transportiert mit Unterstützung von Ausserrhoder Stiftungen seit Kriegsbeginn Hilfsgüter in ihr Heimatland.

Ersatzreifen hat sie immer dabei. Die Strassen voller Löcher, ka­putte Fahrbahnen, Raketensplitter, unpassierbare Brücken, die zu langen Umwegen zwingen, kurzum: eine Strapaze für Mensch und Gefährt. Was Viktorija Shapoval so beschreibt, ist ihre Route quer durch die Ukraine, die sie van März 2022 bis Juni 2023 achtmal gefahren ist und weiter regelmässig fährt: 2300 Kilome­ter von Heiden, dem Startort, über Deutschland und Polen bis zum Ziel Tscherkassy, Viktorijas Heimatstadt im Zentrum der Ukraine, am Dnipro gelegen, einige hundert Kilometer südlich der Hauptstadt Kiew.

Als wir uns zusammen mit Stefan Sonderegger, dem Präsiden­ten der Steinegg Stiftung, in Heiden treffen, an einem heissen Vorsommertag, steht wieder eine solche Fahrt bevor. Wenige Tage zuvor ist Viktorija zurück aus der Ukraine hier eingetroffen, jetzt stapeln sich in einer Scheune der früheren Sägerei Sonder­egger in der Ebni in Kisten und Säcken Hilfsgüter aller Art. Eine der Kisten enthält Blazer für Frauen, in einer anderen sind Jacken verpackt, alles fein säuberlich beschriftet, damit Auslad und Verteilung am Zielort möglichst speditiv vor sich gehen. Eine Kiste enthält Spielwaren, auch Koffer sind vollgestopft mit «Klamotten», wie Viktorija sagt, und in einem der Kartons sind, noch in der Originalverpackung, leichte Hemden gestapelt. Leicht – sodass man die Ärmel im Spital oder Lazarett ohne Umstände abreissen könne.

Die Frage, was am dringlichsten benötigt werde im kriegsver­sehrten Land, beantwortet sie mit einem einzigen Wort: «alles». In den ersten Monaten des Kriegs waren medizinische Produkte Mangelware: Verbandmaterial, Medikamente wie Schmerzmit­tel und Antibiotika, Blutstopper. Inzwischen lieferten andere Staaten medizinische Güter, die Regale in den Apotheken seien wieder besser gefüllt, berichtet Viktorija. Als der erste Kriegswin­ter nahte, besorgten sie und ihre Schweizer Helferinnen und Hel­fer Thermowäsche, Wärmesohlen, warme Kleider aller Art für die Zivilbevölkerung und die Soldaten. Auch Esswaren, Geschirr, Matratzen, Schlafsäcke, Haushaltsartikel, Tierfutter und so weiter sei knapp – viele ihrer Landsleute wurden ausgebombt, müssen an fremden Orten einquartiert werden und haben ihre Wohnun­gen und all ihr Hab und Gut verloren. Selbst ein Stromgenerator hat schon unter Viktorijas Obhut den Weg aus der Schweiz in die Ukraine gefunden. Und Kerzen – unverzichtbar bei den regelmässigen Stromausfällen, die die Bevölkerung durchmacht.

Die dringlichsten Hilfsgitter werden in hiesigen Geschäften möglichst günstig gekauft. Für Thermowäsche etwa hätten sie alle möglichen Läden bis zum Liq Shop der Armee abgeklap­pert; «wir haben praktisch die Ostschweiz leergekauft», sagt Vik­torija. Vieles kommt darüberhinaus durch Sach- und Geldspen­den zusammen, das Schneeballprinzip funktioniert, die Aktion hat sich herumgesprochen. Eine Frauengruppe aus der Region strickt für die Ukraine.

Viktorija Shapoval und Stefan Sonderegger Bild: Appenzellische Jahrbücher, Band 150 (2023)

Mutig reagiert nach dem 24. Februar

«Unglaublich agil, mutig und vernetzt»: So charakterisiert Ste­fan Sonderegger Viktorija Shapoval. Aufgewachsen in Tscher­kassy noch in der Endphase der Sowjetzeit, vor der Unabhängigkeit der Ukraine, habe sie eine vergleichsweise unbeschwerte Jugend verbracht, erzählt die heute Fünfzigjährige. Sie betrieb Spitzensport, was im Sowjetsystem staatlich stark gefordert und hoch angesehen war. Der Fall der Mauer 1989 und die Unabhängigkeit 1991 bescherten ihrem Land neue Freiheiten, aber auch wirtschaftliche Umbrüche. Die Eltern, beides Ingenieure, verlo­ren ihre Arbeitsstellen. Sie studierte fünf Jahre Englisch an der Universität und absolvierte die Landwirtschaftliche Akademie in Kiew, spricht neben Ukrainisch, Englisch und (sehr gut) Deutsch auch Russisch, Tschechisch und Polnisch und kam vor rund acht Jahren in die Schweiz. Hier ist sie wochenweise als Haushaltshilfe und Betreuerin des über neunzigjährigen früheren Sägereibesitzers Konrad Sonderegger tätig.

Über diese Anstellung lernte sie Stefan Sonderegger, Konrads Sohn, kennen. Und gemeinsam wurden die beiden aktiv, als Russlands Truppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmar­schierten: Die Steinegg Stiftung rief im Verbund mit der Hans und Wilma Stutz-Stiftung und der Müller-Tremp-Stiftung einen Ukraine-Nothilfefonds ins Leben, dotiert mit bis heute insge­samt rund 100'000 Franken. Das Ziel: unkompliziert und wirkungsvoll Hilfe vor Ort zu leisten.

Bild: Appenzellische Jahrbücher, Band 150 (2023)

Rasch und unburokratisch

«Unsere Gesellschaft steht zunehmend vor Herausforderungen, die nicht planbar und berechenbar sind. Das ist ein grosses Thema für das schweizerische Stiftungswesen», sagt Stefan Son­deregger. Die Steinegg Stiftung, deren Präsident Sonderegger seit rund vier Jahren ist, hat die dafür notwendige Flexibilität in letzter Zeit gleich mehrfach bewiesen. Etwa mit dem Not­fonds, den Ausserrhoder Stiftungen in der Covid-19-Pandemie eröffnet haben für Kunstschaffende, die durch die Maschen des staatlichen Unterstützungsnetzes fallen und rasch Hilfe brauchten.

Unter Führung der Dr. Fred Styger-Stiftung beteiligten sich daran die Johannes Waldburger-Stiftung, die Dr. Karl Schön­feld-Brunner-Stiftung, die Bertold Suhner Stiftung, die Steinegg Stiftung und die Lienhard Stiftung. Die Behandlung der Bei­tragsgesuche und die Verwaltung des Fonds übernahm die Aus­serrhodische Kulturstiftung. Bis April 2023 leistete der Fonds Beitrage an 40 Empfängerinnen und Empfänger im Gesamt­betrag von rund einer Viertelmillion Franken.

Kulturforderung ist denn auch jene Sparte, mit welcher die Steinegg Stiftung weit über Herisau hinaus, wo sie ihren Sitz hat, bekannt geworden ist. Entwicklungspolitische Projekte seien zwar weniger zahlreich als kulturelle, denkmalpflegeri­sche und soziale Engagements, aber für die Stiftung ebenfalls wichtig, sagt Sonderegger. Sein Bestreben sei es, in jeder Stif­tungsrats-Sitzung wenn immer möglich ein bis zwei Gesuche aus diesem Bereich ins Programm aufzunehmen.

Als private Stiftung habe man die Möglichkeit, rasch und un­bürokratisch zu reagieren. Im Fall des Ukraine-Nothilfefonds er­teilte der Stiftungsrat seinem Präsidenten die Vollmacht, die Hilfsaktionen autonom durchzuführen und die Mittel entspre­chend einzusetzen – in Absprache mit den anderen beteiligten Stiftungen.

Grundlage für die breite Fördertätigkeit der 1996 gegründeten Stiftung ist ein weit gefasster Zweckartikel, der unter ande­rem die «Unterstützung von Organisationen und Veranstaltun­gen, deren Tätigkeit und Erfolg den Interessen der Offentlich­keit dienen», umfasst. Dieser vom Stifter, dem Herisauer Unter­nehmer Heinrich Tanner (1925–2023), gewahrte Spielraum kommt im aktuellen Fall der Nothilfe für die ukrainische Gesellschaft zugute – und ermöglicht auch in anderen Krisenfallen ein rasches Reagieren.

Die Steinegg Stiftung hat sich von Kriegsbeginn weg auch an­derweitig für die in die Schweiz geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer eingesetzt. So unterstützte sie das Kinderdorf Pesta­lozzi in Trogen, das nach dem russischen Überfall die ersten Geflüchteten aufnahm, und die im Haus Ob dem Holz in Rehe­tobel untergekommenen Flüchtlingsfamilien. Oder sie ermöglichte mit einer Finanzspritze die Entwicklung eines Holz­modulbaus für Familien, die ihr Obdach verloren hatten. Heute stehen 55 solcher Kleinhäuser in der Ukraine, ein weiteres be­merkenswertes, ebenfalls aus privater Appenzeller Initiative entstandenes Hilfsprojekt.

Bild: Appenzellische Jahrbücher, Band 150 (2023)

«Es konnte immer etwas von oben kommen»

Der Kleinbus, den Viktorija jetzt in Heiden belädt, hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Wie die Fahrzeuge bei früheren Fahrten auch, hat ihn die Stiftung als Occasion günstig erstan­den. Fachkundige Unterstützung beim Kauf erhalt sie durch einen Neffen von Stefan Sonderegger, der gelernter Auto­mechaniker ist. Die Autos – Kleinbusse, Pick-ups, Transporter mit 4x4-Ausstattung – werden mit einer Überführnummer registriert und am Zielort der Hilfsorganisation «Ukraine is one» übergeben, die sie für die Rettung von Verwundeten oder den Transport von Gefallenen einsetzt. Das sagt und schreibt sich leicht, und es öffnet zugleich einen verstörenden Blick in die Wirklichkeit des Kriegs, der seit inzwischen anderthalb Jahren beinahe mitten in Europa herrscht. Die Bilder und die Erzählungen, die Viktorija von der Front mitbringe, würde man lieber nicht sehen und hören wollen, sagt Stefan Sonderegger.

Woher Viktorija Shapoval ihren Mut und ihren trotz des Kriegs offenbar unerschütterlichen Optimismus hernimmt, bleibt ihr Geheimnis. Auf die Journalistenfrage, ob die Fahrten (rund neunhundert Kilometer misst allein die Strecke auf ukrainischem Territorium) nicht sehr gefiihrlich seien, sagt sie lakonisch: «Es konnte immer etwas von oben kommen.» Ihre Heimatstadt wurde erst neulich von Raketen getrof­fen, Luftalarm mehrmals am Tag sei zur Normalität gewor­den. Keine Angst? Kak se bude, tak se bude - es kommt, wie es kommt ...

Und dann zeigt sie eine Mütze, die mit einer Art Wappen ähnlich einem militärischen Rangabzeichen verziert ist. Das Wap­pen zeigt eine stilisierte, kämpferische Biene, das Emblem der Freiwilligenorganisation von Tscherkassy: auf Deutsch «zornige Bienen». Man kann sich lebhaft vorstellen, dass es bei den Fahrten über mehrere Landesgrenzen hinweg auch mal nötig sein kann, den Stachel auszufahren.

Tscherkassy ist das logistische Zentrum, von dort werden die Hilfsgüter auf Spitäler, sonstige Einrichtungen und auf die Dör­fer verteilt. Auf dem Land sei schon vor dem Krieg die Entwicklung «hundert Jahre» hinter jener in den Zentren hinterherge­hinkt, entsprechend herrsche dort am meisten Not und Mangel, erklärt Viktorija. Die Städte seien einigermassen organisiert und dank Luftabwehr zumindest teilweise geschützt, doch auf den Dörfern sei das alltägliche Leben praktisch zum Stillstand ge­kommen und mangle es an allem.

Ist die ganze Hilfsaktion bei den immensen Problemen im Land und bei all den Kriegszerstörungen am Ende nicht bloss ein Tropfen auf den heissen Stein? Viktorija sieht es so pragma­tisch wie programmatisch: «Jeder macht seine kleinen Schritte, dort, wo es möglich ist.» Vielerorts sei die Hilfe allerdings zu spät angelaufen, die Unterstützung durch den Westen zu zögerlich gekommen. Und worüber sie sich heftig beklagt: dass millio­nenschwere Hilfszahlungen etwa für den Strassenbau und die Reparatur von Infrastrukturen im Land verteilt würden ohne Transparenz, wer wieviel bekomme und wohin das Geld fliesse. Bei ihrer eigenen Hilfstätigkeit könne das nicht passieren – hier sorgen die «zornigen Bienen» dafiir, dass die Hilfsgüter ihren Bestimmungsort garantiert erreichen. Und dass, wie es in einem Bericht des Ausserrhoder Nothilfefonds heisst, «mit unseren ge­zielten Aktionen das Leid zumindest ein wenig gemildert wer­den kann».

Dieser Text von Peter Surber erschien erstmals in den «Appenzellischen Jahrbüchern», Band 150, 2023, der Appenzellischen Gemeinnützigen Gesellschaft.

Peter Surber