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Gesundheit
09.11.2021

Wedelt der Schwanz mit dem Hund?

Da wedelt der Schwanz mit dem Hund oder die Minderheit mit der Mehrheit
Da wedelt der Schwanz mit dem Hund oder die Minderheit mit der Mehrheit Bild: shutterstock.com
Corona hat wieder Saison. Nicht nur im Rheintal oder St.Gallen, sondern in ganz Mitteleuropa steigen die Inzidenzwerte in ungeahnte Höhen. Obwohl das Coronatheater schon weitgehend vorbei sein könnte, geht es in die nächste Runde. Ein Kommentar von Chefredaktor Gerhard M. Huber.

Als liberaler Bürgerlicher, der die Realität als Massstab seines Wirkens im Auge behalten will, überprüfe ich immer wieder, was ich in der Vergangenheit so in die Welt gesetzt habe. Und nein, ich komme jetzt nicht auf meinen in den Augen einiger Leser vermeintlich unausgewogenen Fussballbericht über den Skandalmatch zwischen Altstätten und Staad zurück. Sondern vielmehr auf meinen im September erschienenen Kommentar «Das Selbstmitleid der Ungeimpften».

Corona muss Privatsache sein?

Ich vertrat damals die Ansicht, dass Corona Privatsache sein müsse, sobald jeder Impfwillige auch die Möglichkeit zur Impfung bekommen hat. Dass man den freiwillig Ungeimpften natürlich ihren Willen lassen müsse. Aber dass sie endlich aufhören sollten, die Konsequenzen ihrer persönlich und für sich selbst unter ausdrücklicher Berufung auf ihre Freiheit getroffenen Entscheidungen derart peinlich zu bejammern.

Wir sitzen alle im selben Boot vulgo Schiff Bild: shutterstock.com

Doch die Entwicklung der letzten Tage, die ungeheure Geschwindigkeit, in der die Inzidenzzahlen in die Höhe schiessen und die Intensivbetten wieder knapp werden, verlangen nach einer Neubeurteilung. Verlangen nach der Feststellung, dass es keine zwei Welten, die der Ungeimpften und der Geimpften, gibt, sondern dass wir alle im selben Boot sitzen.

Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit

Damit werden Fragen aufgeworfen, die alles liberale Gedankengut bis ins Mark treffen. Im Verhältnis zwischen Staat und Bürger, zwischen Mehrheit und Minderheit. Denn die Impfquote stagniert gerade in der Schweiz und gerade auch im Kanton St.Gallen auf einem im Vergleich mit anderen, vor allem südeuropäischen Ländern, katastrophal niedrigen Niveau. Bezeichnend, dass die «durchgeimpften» Länder Portugal, Spanien und auch Italien derzeit äusserst niedrige Inzidenzen und Intensivstationen weitgehend ohne Coronakranke aufweisen.

Das heisst, dass die Gruppe der Impfunwilligen gerade in der Schweiz, wo die Impfung vollkommen irreal als Angriff auf die Freiheit des Einzelnen empfunden wird (was ich logisch nie nachvollziehen konnte), gross genug geblieben ist, um Infektionen, schwere Verläufe und Todesfälle hervorzubringen. In einer Anzahl, die Sorge machen muss. Die Angst vor Corona wächst wieder. Einer Umfrage zufolge sogar stärker bei den Geimpften als bei den Ungeimpften.

Millionen aus der Staatsschatulle

Ich dachte immer, dass, solange man gut und den wissenschaftlichen Erkenntnissen gemäss geimpft ist, Corona für einen persönlich vorbei ist. Was in medizinischer Hinsicht auch weiterhin gilt. Aber nicht mehr in politischer, ökonomischer und moralisch-ethischer Hinsicht. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis aus der Staatsschatulle wieder Millionen in dann wieder kostenlose Tests investiert werden müssen, dass die durch Corona entstehenden Defizite der Krankenhäuser ausgeglichen werden müssen und der Volkswirtschaft wieder ein enormer Schaden aus den vermehrten Krankenständen entstehen wird.

Die Staatsmillionen werden wieder fliessen. Bild: derbund.ch

Zusätzliche Gesundheitskosten aus der Verschiebung von Operationen werden entstehen. Verschiebungen, die notwendig werden, da Intensivbetten für die Schwererkrankten bereitgehalten werden müssen, weil ein akuter Coronafall natürlich Vorrang vor einer Bypass-OP hat, die noch einige Zeit warten kann.

Wedelt der Schwanz mit dem Hund?

Ganz ehrlich, einmal nachgedacht: Wedelt hier nicht der Schwanz mit dem Hund? Haben die freiwillig Ungeimpften, die derzeit über neunzig Prozent der Corona-Schwererkrankten auf den Intensivstationen stellen, durch ihr Verhalten nicht die Mehrheit der Bevölkerung, die sich impfen hat lassen, in Geiselhaft genommen? Erleben wir nicht eine «Tyrannei der Ungeimpften»? Ja und Nein! Inzwischen bin ich der Ansicht, dass eine reiche und liberale Gesellschaft wie die Schweiz so etwas aushalten muss, persönliche Entscheidungen ihrer Bürger respektieren muss, solange sie damit nicht gegen das Gesetz verstossen.

Was nichts daran ändert, dass es moralisch-ethisch grundfalsch ist, die eigene Meinung und Entscheidung, die auf über Social Media verbreiteten und wissenschaftlich empirisch längst widerlegten Fake News beruht, über das Wohl von anderen zu stellen. Pflegebedienstete in Altenwohnheimen oder Spitälern, die sich nicht impfen lassen, schlägt in dieser Hinsicht berechtigte Kritik entgegen. Denn die Freiheit eines jeden endet, wo er Freiheit oder Gesundheit eines anderen bedroht.

Legendäre Langsamkeit

Was in Pandemiezeiten erschwerend dazugekommen ist, ist die legendäre Langsamkeit der Berner Behörden. Da wurde vieles an die Wand gefahren. In Zeiten, in denen rund um die Schweiz zum Schutz der älteren Mitbürger geboostert wird, was das Zeug hält, wurde hierzulande trotz einer mehr als ausreichenden Anzahl an vorrätigen Impfstoffen verfügt, dass erst am 15. November damit begonnen werden darf.

Österreich hat es vorgemacht. Mit der überfallsartigen Einführung von 2G statt 3G wurde eine neuerlich Impfwelle und Warteschlangen vor den Impfstationen ausgelöst. Allerdings muss diese Vorgangsweise tatsächlich als «indirekter Impfzwang» angesehen werden. Die neuerlichen Einschränkungen werden damit auf die freiwillig Ungeimpften beschränkt. Und je weiter dieser Weg gegangen wird, umso dünner wird der juristische Unterbau dafür.

Anforderung der Verhältnismässigkeit

Wenn es dem Staat misslingt, unter Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben und der Anforderung der Verhältnismässigkeit Regeln zu formulieren, die nur für einen bestimmten Teil der Bevölkerung gelten sollen, dann bleibt doch nur ein Ausweg: Verhaltensweisen für die gesamte Bevölkerung zu erlassen und an deren Solidarität in der Not zu appellieren. Das ist jedenfalls leichter zu kontrollieren.

Was aber auch die Solidarität der Ungeimpften und Coronamassnahmengegner, der Populisten und rechtsextremen Trittbrettfahrern einfordern würde. Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome trifft die Komplexität des Themas und der aktuellen Situation mit einem Satz: «Selten haben sich das Recht auf individuelle Eigenverantwortung, die (moralische) Pflicht zur Solidarität und staatlich administrierte Daseinsvorsorge so sehr ineinander verkantet wie in dieser Phase von Corona».

Meine Meinung - und Ihre?

Gerhard M. Huber, Chefredaktor rheintal24.ch

Chefredaktor Gerhard M. Huber, rheintal24