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Gesundheit
21.03.2021

Über 90-Jährige schützen – unter welchen Bedingungen?

Glücklich zusammen den Lebensabend verbringen.
Glücklich zusammen den Lebensabend verbringen. Bild: zVg
Menschen in Alten– und Pflegeheimen bilden den Kern der sogenannt sehr gefährdeten Gruppen. Soll man sie um jeden Preis schützen? Wollen Sie das auch? Ist es vertretbar?

Vor Kurzem traf ich eine medizinische Fachangestellte der Gesundheit. Sie arbeitet heute alternativ, betreut daneben aber auch noch Menschen im Pflegeheim.

Fremd gefüttert und entleert

Sie erzählte mir, dass es ihr ein grosses Anliegen sei, dass man sich einfach mal Gedanken mache, wen man da überhaupt schütze. Im Pflegeheim gebe es Menschen, die gefüttert werden und den ganzen Tag apathisch in einem Stuhl vor dem Fenster sässen. Auch die Abführung der verdauten Nahrung braucht Hilfe. Diese Menschen vegetieren in ihren Augen nur noch. Wenn ein wirklich alter Mensch nicht mehr essen will, dann ist er bereit, die Erde zu verlassen. Es ist das einzige Zeichen, dass er noch geben kann, wenn er nicht mehr so klar im Kopf ist und eine sehr natürliche Sache.

Wollen sie das überhaupt?

Es ist für sie erschütternd, dass man zu alle dem diese Menschen auch noch gegen einen Corona-Virus impft. Die Pflege dieser Menschen ist unglaublich anstrengend und auch sehr kostspielig. Sie laugt die Pflegenden und auch das Gesundheitswesen aus. Deshalb ist eine Impfung dieser Menschen sehr fragwürdig, zumal diese den ohnehin  schon eher schwachen Organismus auch noch zusätzlich belastet. Niemand kann sie mehr fragen, ob sie das überhaupt wollen, weil sie darauf keine Antwort mehr geben können. Gut ist, dass sie irgendwann trotz allen Massnahmen gehen dürfen.

Keine Frage der Ethik

Wenn ein Mensch im Stadium ist, dass er nicht mehr viel wahrnimmt, nicht mehr alleine isst, sich dem Abfall der Nahrung auch nicht mehr alleine entledigen kann, ist die ethische Frage nicht mehr zu stellen. Der Mensch, dessen Hülle noch im Pflegeheim sitzt, gibt die Antwort gleich selbst.

Bedenkenlos moderne Schmerzmittel einsetzen

Als die Pflegefachfrau die Ausbildung machte, das war in den neunziger Jahren, war das noch anders. Man liess die Menschen gehen und schaute, dass sie keine Schmerzen haben. Die moderne Medizin hat heute Morphium, um sehr unangenehme schmerzvolle Zeiten zu überstehen. Auch ein allfälliger Erstickungstod kann mit Morphium schmerzfrei und kurz gemacht werden. Krebskranke Menschen bekommen alle Morphium, wenn sie kurz vor dem Ende sind.

Zu dieser Zeit hat man über 90-Jährige nicht um jeden Preis beatmet. Die lange Beatmung ist auch nicht schadlos. Die meisten Menschen, die das noch überleben, haben danach kein gutes, würdiges Leben mehr.

Viele alte Menschen wollen nicht ins Pflegeheim

Eigentlich wäre es normal, dass man im Alter zufrieden ist. In Wahrheit haben aber viele ältere Menschen eine Depression – die im schlimmsten Fall mit Suizid endet.

Depression, die oft mit Traurigkeit verwechselt wird, und Einsamkeit sind die Hauptgründe, dass ältere Menschen nicht mehr leben wollen. Häufig kann eine Depression auch im Zusammenhang mit einer schweren, schmerzhaften Krankheit eintreten. Zudem lässt oft die Sehkraft nach, manchmal nimmt auch das Gehör ab und behindern den Austausch mit anderen Menschen.

Wunsch nach Sterbehilfe

Im Jahr 2014 nahmen schon zweieinhalbmal mehr Menschen Sterbehilfe in Anspruch als noch 2009.  Die Betroffenen waren zu 94 Prozent über 55-jährig, die meisten litten an einer tödlichen Krankheit (Quelle BAG-Zahlen).

Aufgabenlos und leer

Viele alte Menschen haben nach der Pensionierung keine Aufgabe mehr und haben grosse Angst vor dem Pflegeheim, da sie fürchten, ihre Selbstständigkeit dort noch völlig zu verlieren. Auch eine allfällige Demenz macht Angst, weil die Kontrolle über das eigene Leben entfällt. Ein Leben lang haben sie für sich und andere gesorgt und am Schluss des Lebens empfinden sie es als unwürdig, dass ihre Grundbedürfnisse nur noch mit Hilfe von fremden Menschen besorgt werden.

Heute übernimmt die Familie diese Aufgabe sehr selten. Keine Zeit, viel zu tun, keine Lust, sich unangenehmen Aufgaben zu stellen. Einfacher ist es, die Angehörigen fremd betreuen zu lassen. Für die Betroffenen selbst ist das oft sehr schwierig zu verstehen, auch wenn sie es nicht aussprechen.

Gespräche untereinander sind so wertvoll. Bild: zVg

Nie gelernt, Bedürfnisse zu äussern

Viele ältere Menschen haben nie gelernt zu sagen, was sie beschäftigt, was sie stört, was sie gerne haben oder nicht so gerne. Über das Gefühlsleben hat man nicht gesprochen. Es ist schwierig, am Ende des Lebens dies plötzlich zu tun, aber nicht unmöglich. Ein Mensch, der seine wahren Bedürfnisse äussern kann, wird ernster genommen und auch mehr akzeptiert.

Nicht zur Last fallen

Die Gesellschaft empfindet jegliche Art von Unselbständigkeit im erwachsenen Alter als Last. Ältere Menschen waren ein Leben lang selbständig und möchten nicht zur Last fallen. Lieber nehmen sie sich zurück, fragen schon gar nicht um Hilfe an. Dabei braucht es manchmal so wenig, um mit etwas Hilfe selbständig zu bleiben.

Was muss sich gesundheitspolitisch ändern?

Menschen in der Altenpflege müssen besser ausgebildet werden. Viele Pflegekräfte leiden darunter, dass sie im psychischen und auch spirituellen Bereich im Blick auf die Gesundheit alter Menschen mit unzureichenden Kompetenzen ausgestattet sind. 

Entscheidend ist, wie viel Wert ein Mensch hat

Nicht jeder alte Mensch ist dement, sobald er sich nicht mehr an alles erinnern kann. Es ist wichtig, dass hier nicht einfach eine Diagnose gestellt wird, die heute eigentlich genau untersucht werden kann. Viele ältere Menschen haben auch eine grosse Angst, dass sie, sobald sie sich nicht mehr an alles erinnern können, als dement eingestuft werden. Umso grösser ist auch die Gefahr, dass sie dement werden.

Entscheidend ist, wie viel und welcher Platz alten Menschen in der Gesellschaft zugestanden wird. Wenn ein alter Mensch darauf zählen kann, dass er von der Gesellschaft bis zu seinem Tod würdig gepflegt und umsorgt wird, dann kann er einfach seinen Lebensabend geniessen.

Wenn aber Gesundheitsökonomen und Politiker behaupten, dass dafür in einer der reichsten Gesellschaften der Welt das Geld fehlt, müssen die Prioritäten neu verhandelt werden. 

Alte Menschen in Würde leben lassen. Bild: zVg

«Ich will nicht mehr leben»

Signalisieren Menschen nicht einfach, dass sie die Situation nicht mehr aushalten und anders leben möchten. Vor diesem Hintergrund ist es dringend, über Würde und Menschenwürde zu diskutieren.

Helfen und Hilfe erhalten, bereichern

Ist denn Hilfsbedürftigkeit im Alter würdelos? Wichtig ist auch zu diskutieren, dass Abhängigkeit durchaus auch schöne, positive Aspekte haben kann, da wir als soziale Wesen alle voneinander abhängig sind, und weil helfen und Hilfe erhalten das menschliche Miteinander bereichern.

Tod als natürlicher Prozess im Leben

Gespräche zum Wert des Lebens und der Rolle des Sterbens sind auch sehr wertvoll.  Denn es geht auch um die Kultur des Lebens. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Menschen sich lieber nicht mit Tod und Sterben beschäftigen und damit die Vorstellungen und Ängste dazu grösser werden. Der Tod sollte wieder einen natürlichen Platz im irdischen Leben bekommen.

Der Tod, das Ende. Bild: zVg

Das Leben hat ein Ende

Zum Schluss sagte mir die Pflegefachfrau, dass die Menschen jetzt wieder erfahren haben, dass man auch sterben kann. Menschen müssen sterben können. Es ist der normale Verlauf eines Lebens, geboren werden, um zu sterben. Die Ursache des Todes ist nicht von einem einzigen Faktor abhängig.

Quelle TagesWoche vom 14.11.2016
Gespräch mit Pflegefachfrau von Stäfa, 15. März 2021.

Patricia Rutz/Toggenburg24