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20.03.2021

«Denken, ohne sich um die Andern zu bekümmern»

Anlässlich des 200. Geburtstags des Philosophen erschien 1988 diese Gedenkmünze im Wert von 10 DM
Anlässlich des 200. Geburtstags des Philosophen erschien 1988 diese Gedenkmünze im Wert von 10 DM Bild: PD
Der ehemalige St. Galler Stadtarchivar Ernst Ziegler beschäftigt sich nicht erst seit seiner Pensionierung mit dem grossen deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer.

Für stgallen24.ch stellt Ziegler in unregelmässigen Abständen Preziosen aus Schopenhauers handschriftlichem Nachlass vor. Heute: Philosophieren mit Schopenhauer, Teil 5.

Fortsetzung und Schluss, den Teil 4 finden Sie hier

Die Gedankenbücher

Von Arthur Schopenhauer werden in der Staatsbibliothek zu Berlin ein halbes Dutzend Manuskript- oder Gedankenbücher, philosophische Tagebücher, aufbewahrt, die er mit lateinischen Titeln versah. Die Senilia (nomen est omen!) habe ich, mit einer gehaltvollen Einleitung Franco Volpis, 2010 herausgegeben; sie wurden auch ins Spanische übersetzt und kamen 2011 in zweiter Auflage heraus. Die Sache war nicht immer ganz einfach, weil Schopenhauers Manuskriptbuch, das er von 1852 bis 1860 benützte, stellenweise ziemlich schwierig zu transkribieren war.

Nach den Senilia folgten 2015 die Spicilegia, was «Ährenlese» bedeutet, und 2016 die Pandectae, «Allumfassendes». Drei weitere Bände kamen in einem anderen Verlag heraus: 2017 die Cogitata und das Cholerabuch sowie 2019 schliesslich noch die Philosophari.

Spicilegia, Senilia und Pandectae, erschienen im Verlag C.H.Beck Bild: PD

Schopenhauser's System

Das philosophische Tagebuch Cogitata, das Schopenhauer von 1830 bis 1833 führte, enthält – wie die anderen Gedankenbücher – nicht nur Gedanken, sondern auch Auszüge, Inhaltsangaben, Stellenhinweise aus verschiedenen Werken, Entwürfe zu Vorreden und teilweise bissig Kritiken. Die in diesen Bänden festgehaltenen Gedanken bilden so gleichsam das Skelett zu Schopenhauers System.

Arthur Schopenhauer lebte seit 1820 mit Unterbrechungen in Berlin, wo 1831 die Cholera ausbrach, was ihn bewog, diese Stadt zu verlassen. Auf das Titelblatt eines damals entstandenen Manuskriptbuches schrieb er, es heisse CHOLERABUCH, «weil es auf der Flucht vor der Cholera geschrieben» worden sei.

Vielseitigkeit belegt

Die Philosophari enthalten Zettel mit Auszügen und Abschriften bemerkenswerter Stellen aus Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, die Schopenhauer teilweise in seine Werke übernommen hat. Obwohl diese Zettelsammlung nur bedingt zu den Manuskriptbüchern des Philosophen gehört, wurde sie als sechster Band der Philosophischen Notizen aus dem Nachlass herausgegeben, da diese Zettel belegen, wie vielseitig und weitgespannt Schopenhauers Lektüre war. Die in diesem Band zu erkennenden Interessensgebiete des Philosophen sind so beeindruckend, dass er einen würdigen Abschluss der Herausgabe der Philosophischen Notizen aus dem Nachlass darstellt.

Philosophari, Cholerabuch und Cogitata, erschienen im Verlag Königshausen & Neumann Bild: PD

Transkribieren – «Hosenbodenarbeit»

Das Transkribieren eines Textes, ganz egal ob es sich um eine mittelalterliche Urkunde, eine städtische Rechtsquelle, eine Vorlesungsnotiz Jacob Burckhardts oder eben einen Text Schopenhauers handelt, ist zum grösseren Teil reine «Hosenbodenarbeit» und hat mit Intelligenz nicht viel zu tun.

Friedrich Nietzsche hat einmal den echten, grossen Historikern «die karrenden, aufschüttenden, sichtenden Arbeiter», die sogenannten «Kärrner der Geschichte», gegenübergestellt, die man betrachten solle «als die nöthigen Gesellen und Handlanger im Dienste des Meisters». Wenn wir das Wort «Historiker» durch «Philosoph» ersetzen, dann war ich als Archivar während mehr als dreissig Jahren ein «Kärrner der Geschichte» und bin jetzt wahrhaftig kein «grosser Philosoph», aber ein vielleicht «nötiger Geselle und Handlanger im Dienste der Meister», eben ein «Kärrner der Philosophie».

Philosophische Gedanken – lange Meditationen

Der «karrende, aufschüttende, sichtende Arbeiter» findet in Schopenhauers Bergwerk reiche Ausbeute: philosophische Gedanken, die zu langen Meditationen einladen; griechische, lateinische, spanische, französische, italienische und englische Zitate (Schopenhauer konnte sieben oder acht Sprachen) lenken von der eigentlichen Arbeit des Transkribierens ab und regen zu weiterführender Lektüre an.

Denken vorangetrieben

Ich schliesse mit einem Zitat frei nach Schopenhauer: Es war mir nun, Dank der liebevollen Unterstützung meiner Frau Maria, eine Reihe von Jahren hindurch gestattet, «Studien, die in Hinsicht auf Gelderwerb die unfruchtbarsten sind, Untersuchungen und Meditationen der allerschwierigsten Gattung ausschließlich nachzuhängen» und manche Jahre mit Schopenhauer zu philosophieren. Der bekannte Schriftsteller Rüdiger Safranski (geb. 1945) schreibt in seiner Schopenhauer-Biographie: «Unsere Ereignisse, die sich nicht mehr vergessen lassen, heißen Auschwitz, Archipel Gulag und Hiroshima. Philosophische Einsicht heute sollte sich dem, was in diesen Ereignissen zum Vorschein kommt, gewachsen zeigen. Man wird auf Schopenhauer zurückgreifen müssen, um auf die Höhe unserer Zeit zu kommen. Nicht nur Schopenhauers Pessimismus, auch seine Philosophie des kraftvollen Innehaltens und der Verweigerung treibt das Denken voran.»

Nichts Philosophisches mehr von Bedeutung seit Schopenhauer

Und der berühmte (oder berüchtigte) französische Schriftsteller Michel Houellebecq (geb. 1958) findet es «nervend», «in einer Zeit zu leben, die seit Schopenhauer und Comte nichts philosophisch Bedeutendes mehr hervorgebracht habe». Im Cholerabuch notierte Schopenhauer: «Ein denkender Kopf kann mit seinem Zeitalter zufrieden seyn, wenn solches ihm vergönnt in seinem Winkel zu denken, und sich nicht um ihn bekümmert; – und mit seinem Glück, wenn es ihm einen Winkel schenkt, in dem er denken kann, ohne sich um die Andern bekümmern zu dürfen.»

Der Autor mit einer Kopie einer Schopenhauer-Handschrift Bild: stz.
Ernst Ziegler, ehemaliger St. Galler Stadtarchivar