Transkribieren – «Hosenbodenarbeit»
Das Transkribieren eines Textes, ganz egal ob es sich um eine mittelalterliche Urkunde, eine städtische Rechtsquelle, eine Vorlesungsnotiz Jacob Burckhardts oder eben einen Text Schopenhauers handelt, ist zum grösseren Teil reine «Hosenbodenarbeit» und hat mit Intelligenz nicht viel zu tun.
Friedrich Nietzsche hat einmal den echten, grossen Historikern «die karrenden, aufschüttenden, sichtenden Arbeiter», die sogenannten «Kärrner der Geschichte», gegenübergestellt, die man betrachten solle «als die nöthigen Gesellen und Handlanger im Dienste des Meisters». Wenn wir das Wort «Historiker» durch «Philosoph» ersetzen, dann war ich als Archivar während mehr als dreissig Jahren ein «Kärrner der Geschichte» und bin jetzt wahrhaftig kein «grosser Philosoph», aber ein vielleicht «nötiger Geselle und Handlanger im Dienste der Meister», eben ein «Kärrner der Philosophie».
Philosophische Gedanken – lange Meditationen
Der «karrende, aufschüttende, sichtende Arbeiter» findet in Schopenhauers Bergwerk reiche Ausbeute: philosophische Gedanken, die zu langen Meditationen einladen; griechische, lateinische, spanische, französische, italienische und englische Zitate (Schopenhauer konnte sieben oder acht Sprachen) lenken von der eigentlichen Arbeit des Transkribierens ab und regen zu weiterführender Lektüre an.
Denken vorangetrieben
Ich schliesse mit einem Zitat frei nach Schopenhauer: Es war mir nun, Dank der liebevollen Unterstützung meiner Frau Maria, eine Reihe von Jahren hindurch gestattet, «Studien, die in Hinsicht auf Gelderwerb die unfruchtbarsten sind, Untersuchungen und Meditationen der allerschwierigsten Gattung ausschließlich nachzuhängen» und manche Jahre mit Schopenhauer zu philosophieren. Der bekannte Schriftsteller Rüdiger Safranski (geb. 1945) schreibt in seiner Schopenhauer-Biographie: «Unsere Ereignisse, die sich nicht mehr vergessen lassen, heißen Auschwitz, Archipel Gulag und Hiroshima. Philosophische Einsicht heute sollte sich dem, was in diesen Ereignissen zum Vorschein kommt, gewachsen zeigen. Man wird auf Schopenhauer zurückgreifen müssen, um auf die Höhe unserer Zeit zu kommen. Nicht nur Schopenhauers Pessimismus, auch seine Philosophie des kraftvollen Innehaltens und der Verweigerung treibt das Denken voran.»
Nichts Philosophisches mehr von Bedeutung seit Schopenhauer
Und der berühmte (oder berüchtigte) französische Schriftsteller Michel Houellebecq (geb. 1958) findet es «nervend», «in einer Zeit zu leben, die seit Schopenhauer und Comte nichts philosophisch Bedeutendes mehr hervorgebracht habe». Im Cholerabuch notierte Schopenhauer: «Ein denkender Kopf kann mit seinem Zeitalter zufrieden seyn, wenn solches ihm vergönnt in seinem Winkel zu denken, und sich nicht um ihn bekümmert; – und mit seinem Glück, wenn es ihm einen Winkel schenkt, in dem er denken kann, ohne sich um die Andern bekümmern zu dürfen.»