Geistersehen
Schopenhauer hat sich sein Leben lang intensiv mit Träumen, Nachtwandeln, Somnambulismus, Hellsehen, Magnetismus, Geistern u. dgl. beschäftigt und einen spannenden «Versuch über Geistersehn und was damit zusammenhängt» geschrieben. Diese äusserst anregende Lektüre hat mich seinerzeit dazu bewogen, «Vom Wesen der Träume» und «Traumsymbole des Individuationsprozesses» des Psychologen und Psychiaters Carl Gustav Jung (1875-1961) zu studieren. Jung hat einmal geschrieben, sein «bis dahin grösstes geistiges Abenteuer» sei das Studium der Philosophie Kants und Schopenhauers gewesen. Für Jung war der Traum «ein Stück unwillkürlicher psychischer Tätigkeit», eine «ungemein häufige und normale Äußerung der unbewußten Psyche», ein «Naturereignis». (Im Schopenhauer-Jahrbuch für das Jahr 1971 findet sich ein Beitrag mit dem Titel «Das Rätsel des Hellsehens, Probleme von Kant bis C.G. Jung».)
Kantische Philosophie – wichtigste Lehre
Träume und Geisterseher sind auch Thema jenes einzigartigen Philosophen, der die Kritik der reinen und der praktischen Vernunft sowie der Urteilskraft geschrieben hat, Immanuel Kant (1724-1804), beispielsweise in seiner Schrift «Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik». Schopenhauer schrieb in seiner herrlichen Invektive «Ueber die Universitäts-Philosophie», die wieder einmal in einer Universitätszeitung abgedruckt werden müsste, die Kantische Philosophie sei «die wichtigste Lehre, welche seit 2000 Jahren aufgestellt worden» sei. Aber wer liest heute noch den Königsberger? Kant waren alle diese Dinge, Träume, Geister, ein Dasein nach dem Tode, kurz «die Geheimnisse der andern Welt» gleichgültig. Den Wissbegierigen, «die sich nach derselben so angelegentlich erkundigen», gibt er den «einfaltigen aber sehr natürlichen Bescheid», «daß es wohl am ratsamsten sei, wenn sie sich zu gedulden beliebten, bis sie werden dahin kommen. Da aber unser Schicksal in der künftigen Welt vermutlich sehr darauf ankommen mag, wie wir unsern Posten in der gegenwärtigen verwaltet haben, so schließe ich mit demjenigen, was Voltaire seinen ehrlichen Candide, nach so viel unnützen Schulstreitigkeiten, zum Beschlusse sagen lässt: Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen, und arbeiten.»