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11.01.2025

«General Winter»: Der Geschichtsschreiber als umgewandter Prophet

«Napoleons Rückzug aus Moskau», Gemälde von Adolf Northern (1828-1876)
«Napoleons Rückzug aus Moskau», Gemälde von Adolf Northern (1828-1876) Bild: Wikipedia
Napoleons desaströser Russlandfeldzug von 1812 und der Rückzug der deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg zeigen die verheerenden Folgen von Fehleinschätzungen und Machtstreben. Die Parallelen zu aktuellen Konflikten rufen zum Studium der Geschichte auf, um wiederkehrende Tragödien zu vermeiden.

Im Zusammenhang mit einer Arbeit über Daniel Schlatter (1791–1870), genannt der Tataren-Schlatter, las ich eine Biographie über Alexander I., der von 1801 bis 1825 russischer Zar war. (Auf dieses Werk von Henry Vallotton aus dem Jahr 1967 wird im Folgenden zurückgegriffen.) Am Zarenhof und bei den russischen Höflingen herrschte damals unglaublicher Prunk – wie beim Adel im damaligen Europa.

Im Juni 1812 überschritt Napoleon Bonaparte (1769–1821) mit der «Grande Armée» von über 610'000 Mann den Niemen und fiel über Russland her.

Napoleon wurde auf die Gefahren eines Krieges gegen Russland hingewiesen:

Die Russen konnten sich in «Russlands unendliche Weiten» (Sibirien) zurückziehen. Sogar vor dem «General Winter» wurde der Kaiser der Franzosen gewarnt; er unterschätzte jedoch die Gefahren und Folgen des russischen Winters. Und er unterschätzte auch die Aufopferungsbereitschaft der russischen Soldaten. Zudem waren die Marschälle und Generäle Napoleons mit diesem weit entfernten Krieg nicht einverstanden.

Am 5. Dezember hatte der Kaiser der Franzosen in Begleitung seine Armee verlassen und war in einem Schlitten nach Paris geflüchtet, wo er im Dezember 1812 angekommen war.

Bekannt dürfte sein, dass beim Übergang über die Beresina sich «die Schweizer durch Mut und Aufopferung auszeichneten»: Von 12'000 Schweizern sollen nur 300 in ihre Heimat zurückgekehrt sein. Ende 1812 erreichten die Trümmer von Napoleons Hauptarmee mit angeblich etwa 58'000 Mann die preussische Grenze, wobei allerdings ganz verschiedene Zahlen genannt werden.

Deutsche Soldaten im Januar 1943 im zerstörten StalingradBild Bild: Archiv

«General Frost» half dann auch 1941, als er während der Winterkrise den Soldaten der deutschen Truppen zusetzte. Der Rückzug dieser Truppen begann nach der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43. Dieser Rückzug wurde dann im Volksmund – soweit sich dieser damals noch den Mund aufzumachen getraute – das «Kaiser-Napoleon-Gedächtnis-Rennen» genannt.

In der zweibändigen Biographie «Hitler» von Ian Kershaw steht: «In der Morgendämmerung des 22. Juni 1941 stießen mehr als drei Millionen deutsche Soldaten über die Grenzen hinweg auf sowjetisches Territorium vor. Durch einen dummen Zufall der Geschichte, so hielt Josef Goebbels mit einigem Unbehagen fest, war dieses Datum genau der Tag des Jahres, als Napoleons Große Armee 129 Jahre zuvor in Russland einmarschiert war.»

Im Zweiten Weltkrieg fielen Millionen von Soldaten der Roten Armee, um die Welt vom nationalsozialistischen Deutschland zu befreien.

Napoleons grauenhafter Krieg in Russland und sein Rückzug, seine «Katastrophe in Russland», hätten Hitler als Warnung dienen können.

Der Krieg in der Ukraine und in Russland, wo jetzt auch wieder nur zerstört und gestorben wird, um nichts und wieder nichts, erinnert an das, was den beiden Kriegsverbrechern Napoleon und Hitler widerfahren ist.

Und wenn heutzutage ausgerechnet in Deutschland von «Kriegserklärung» an Russland und von «wir kämpfen einen Krieg gegen Russland» geredet wird, sollten solche Schwätzer die Geschichte dieser Kriege in Russland genau studieren, bevor sie dann tatsächlich losbrechen.

Ernst Ziegler, ehem. St.Galler Stadtarchivar