Home Region Schweiz/Ausland Sport Rubriken Agenda
Kultur
21.11.2024

Von Vergnügen und Verboten

Schlittenfahrt in Giessen, um 1798.
Schlittenfahrt in Giessen, um 1798. Bild: Stammbuch Ludwig Arndt Reuther
Schlittenfahren war in St.Gallen einst weit mehr als ein winterliches Vergnügen – es verband adelige Pracht, gesellschaftliche Ergötzlichkeit und kirchliche Strenge.

Doch die Behörden zögerten nicht, exzessives Rennschlittenfahren und damit verbundene «Mutwillen» mit Verboten und Bussen zu ahnden. Der Rückblick ins 17. und 18. Jahrhundert zeigt, wie tief das Schlittenfahren in der Kultur verwurzelt war – und welche Konflikte es auslöste.

In Johann Anthon Patzaglias Bericht, Oder Send-Schreiben, Die Löbliche Republic, und Stadt St.Gallen Betreffend, der 1718 vom italienischen Sprachmeister Alexander Octavio Dolcetti ins Deutsche übersetzt wurde, steht ein Kapitel über die Schlittenfahrt, das gut in diese Winterzeit passt.

«Es gibt zu St.Gallen eine grosse Menge von besagten Schlitten, sintemalen der ganze Adel und andere vornehme Bürger damit versehen, darunter einige, nicht nur wegen der Vergoldung, sondern auch wegen der Bildhauer-Kunst sehr schön, herrlich und prächtig sind.

Ferner pflegt man sie allzeit an die schönsten, hurtigsten und schnellsten Pferde, so man haben kann, zu spannen.

Von der Schönheit, Zierat und Ausstaffierung besagter Schlitten aber will ich nichts melden, massen ich Euer Gnaden unter anderen Kupferstich-Abbildungen auch eines davon übersenden will und um so viel desto mehrers, weil selbige den italienischen in allem und jedem ungleich scheinen.

Und gleich wie im Winter allhier allzeit grosser Schnee fallet, welcher lang liegen bleibet, also gerät der Weg oder die Schlittenbahn sehr bequem, um seinen Lauf mit dergleichen Fuhren darauf fortzusetzen.

Derowegen bedienen sich die hiesigen Herren besagter Schlitten nicht allein, um eine kurze Reise an die nächstgelegenen Orte damit zu tun, sondern sie gebrauchen selbige auch zu ihrer Ergötzlichkeit, indem sich unterschiedliche gute Freunde, Verwandte oder andere Bekannte versammeln, deren gemeiniglich ein jeder eine Dame oder Frauenzimmer mit aller Bescheidenheit in dem Schlitten führet, und also seinen Lauf in und ausser der Stadt damit verrichtet, und zwar mit einer solchen Geschwindigkeit, dass es schier unsern Barbari (die türkischen oder barbarischen Pferde), wann sie den sogenannten Pallium (eine gewisse Gabe zu gewinnen) rennen tun, in der Schnellheit zu vergleichen sind.

Ein deutscher Prunkschlitten aus dem 18. Jahrhundert Bild: heidecksburg.de

Diese ehrbare Lustbarkeit (so diesem Ort statt eines Karnevals dienet) wird fast alle Jahr vom Magistrat aus erlaubt und zugelassen, allwo hingegen die Maskeraden, die Tänze, öffentlichen Spielhäuser und dergleichen Zeitvertreib (so man wohl wünschen möchte, dass sie in der ganzen Christenheit gänzlich ausgerottet und vertilget würden) auf allezeit verboten sind.

Mit mehrgedachter Schlittenfahrt dann tun sich die St.Galler Herren zu ihrer Ergötzlichkeit vergnügen, welche aber in der Tat überaus schön und in grosser Anzahl angestellt werden, und ich habe eine davon gezählt, so in mehr als 100 Schlitten von grossem Wert und Schönheit bestand.

Dann die eine stellte vor einen Löwen, die andere einen Hirschen, die dritte eine Sirena (Meerfräulein) und die übrigen eine andere Figur, aber fast alle vergoldet und prächtig ausgeziert.

Wann sie nun die mehrgemeldte Schlittenfahrt (welche ihnen gemeiniglich die Kälte und gute Lust zum Essen verursachet) vollendet haben, so pflegen sie sich alle miteinander in einen sehr warmen Saal zu begeben, allwo schier allzeit ein köstliches Abendessen zubereitet wird.»

Wegen Rennschlitten-Fahrens

Solche Schlittenfahrten erlaubte der Magistrat – wie Patzaglia notiert – «fast alle Jahr»; 1655 jedoch verbot er es und erliess wegen des Rennschlitten-Fahrens folgendes Edikt:

«So ist dieser Tage meinen Gnädigen Herren [d.h. dem Rat] mit ihrem nicht wenigen Bedauern vorgekommen, dass sich etliche junge Leut’ angemasset, in den Rennschlitten herumzufahren. Da Uns aber diese hochbetrübten und gefährlichen Zeiten, in welchen beineben unsere lieben Glaubensgenossen hin und wieder von den Feinden der göttlichen Wahrheit viel Not und Drangsal erleiden und ausstehen müssen, viel ein anderes lehren: dass wir nämlich allesamt ein stilles, nüchternes und eingezogenes gottseliges Leben und Wandel anstellen sollten. Also wird man solche Übertreter dieser Satzung nächster Tage vor Bussengericht bescheiden und abstrafen, und dabei andere verwarnet haben, hievon abzustehen oder gleicher Straf und Ungnad meiner Herren zu gewärtigen haben.

Und soll damit für das heurig Jahr das Schlittenfahren, wie auch das Reigenspringen, gar und gänzlich abgestrickt und verboten sein, bei den darauf gesetzten Bussen. Jedoch aber hierin vorbehalten, ob etwa einer auf sein Landgut fahren wollte; dem soll zwar das nicht verboten sein. Er soll aber auch keine Gefahr brauchen, es wären Gastereien oder andere dergleichen Spielchen oder Zusammenkünften anzusehen, ansonst er und alle diejenigen, welche sich dabei befinden würden, der verdienten Straf gleichfalls gewärtig seien.

Danach wisse sich männiglich zu richten und vor Schaden zu verhüten.

Actum vor einem ehrsamen Kleinen Rat auf den 2. Decembris im 1655. Jahr.»

Dieser Text von alt Stadtarchivar Ernst Ziegler wurde erstmals in «Weihnacht und Neujahr im alten St.Gallen», Genossenschaft Typografia St.Gallen, 1988, veröffentlicht.

Das Kulturmuseum St.Gallen zeigt vom 23. November 2024 – 2. März 2025 die Sonderausstellung «Prunkschlitten – Reise in die Barockzeit». Mehr Informationen dazu finden Sie hier.

Bei den im Mandat erwähnten «betrübten und gefährlichen Zeiten» handelt es sich unter anderem wohl um den Bauernkrieg von 1653 und die Flucht von 37 Reformierten aus Arth im Kanton Schwyz nach Zürich im September 1655. Die Obrigkeit war der Meinung, es gäbe angesichts der Verfolgung von Glaubensgenossen nichts zu feiern; Zurückhaltung und Besinnung hingegen seien angebracht!

Bussen für Schlittenfahren

Leider fehlen die Protokolle des genannten Bussengerichts aus dem 17. Jahrhundert. Im Protokollband des Fünfer- und Bussengerichts von 1704 bis 1717 finden sich jedoch neben Einträgen «wegen Freveln mit Wort und Werken», «wegen Tanzen-Lassen», «wegen verbotener Kleiderpracht» usw. auch Busseneinträge «wegen Schlittenfahrens»: Im März 1704 mussten Michael und Christof Am Stein, Hans Conrad Fels der Jüngere und Daniel Zollikofer je 3 Gulden, Alt-Obervogt Dr. Sebastian Högger 2 Gulden blechen, und im März 1705 zahlte Jungfer Anna Elisabeth Keller 1 Gulden.

Synode und Schlittenfahren

Mit dem Schlittenfahren befasste sich natürlich auch die Synode. Schon 1614 wurde geklagt, dass etliche Bürger «in Winter-Zeit in Renn- und anderen ihren Schlitten gen Herisau fahren, auf die Kirchweihe, und auch zu anderen Zeiten sich dahin verfügen und allerlei Mutwillen, nicht ohne Ärgernis ehrlicher Leute, anrichten».

Als im Jahr 1700 im Kleinen Rat die «Gravamina Synodi» verlesen wurden, mussten die Ratsherren auch vernehmen, «dass viele in der Fastnacht ein gottloses, heidnisches Leben geführt; andere den ganzen Winter durch von acht Uhr nachts bis gegen Morgen geschlittet und dabei grosser Mutwill mit unterlaufen» sei. 

Sie gingen auf diese Klage offenbar nicht näher ein, sondern hielten allgemein bloss folgendes fest: «Und weil unter den eint- und anderen Gravaminibus man Materien beobachtet, welche nicht sowohl als Gravamina in dem Synodo anzuziehen, als aber ausser der Zeit einem regierenden Herrn Bürgermeister zu erheischender Abschaffung und Verbesserung anzubringen wären, also versieht sich ein ehrsamer Rat, dass ein ehrwürdiges Ministerium solches künftighin beobachten werde, massen wohlgedacht ein ehrsamer Rat willig und geneigt, einem ehrwürdigen Ministerio von Amts wegen in allem dem die nachdrucksame Hand zu bieten, was die Ehre Gottes und Beibehaltung anständiger Zucht und Ehrbarkeit befördern mag.»

Im «Conventus universalis» vom 11. Dezember 1704, an welchem «alle Herren Prediger in der Stadt» zugegen waren, wurde beschlossen, beim Herrn Amts-Bürgermeister zu klagen, weil «mit Schlitten an St.Mangen-Halden sowohl am Sonntag während den Nachmittags-Predigten, als fast alle Nacht, sehr viel Übles geschehe» und «ihro Ehrsam Weisheiten», d.h. den Bürgermeister und «seine wohlweise Obrigkeit», zu ersuchen, «dem bedürftigermassen abzuhelfen».

Beliebtheit des Schlittelns

Wir können nicht weiter untersuchen, wie und ob die Obrigkeit in Sachen Schlitteln «Remedur» geschaffen hat; es ist anzunehmen, dass auch hier ihre Verbote wenig nützten.

Das Schlitteln scheint ein allgemein beliebtes Vergnügen gewesen zu sein – so beliebt, dass es sogar die Herren Geistlichen betrieben! In einem Monats-Convent im März 1712 wurde folgendes protokolliert: «Schlitten-Fahren der Herren Geistlichen: Deshalb ist ein Anzug geschehen und gut erachtet worden, nachzuforschen, ob einige Unanständigkeiten dabei sich gespüren lassen.»

Wir wollen gerne annehmen, dass den Pfarrern das Seelenheil ihrer Schäfchen am Herzen lag, wenn sie sogar gegen das Schlitteln Sturm liefen. Es kommt mir hier aber auch jene Stelle in den Sinn, die der Arzt Christoph Girtanner 1800 in seinem Buch Vormaliger Zustand der Schweiz schrieb: «Überhaupt herrscht, unter der Schweizerischen Geistlichkeit, sehr viel herrnhutisches, pietistisches, frömmelndes Wesen. Kopfhängen und Augenverdrehen gilt für Andacht und Frömmigkeit, und auf steifer Rechtgläubigkeit wird streng gehalten.»

Und der gewiss unverdächtige Diakon Peter Ehrenzeller hat noch 1827 in anderem Zusammenhang geschrieben, um 1780 scheine in St.Gallen «der geistliche Sonntagszwang, der vielleicht nirgends seinesgleichen fand, wahrlich den höchsten Grad erreicht zu haben». Wobei einer seiner Namensvettern mit Recht zu bedenken gibt, dass es leicht sei, über erstarrte Orthodoxie zu spotten, wenn man dabei übersehe, dass «der reformierte Glaube ganzen Generationen inneren Halt» verliehen habe!

Ernst Ziegler, ehem. St.Galler Stadtarchivar