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Gesundheit
04.10.2024

Missbrauch im Spital?

Walter Spättig bittet um die Aufklärung von Gerüchten über ihn
Walter Spättig bittet um die Aufklärung von Gerüchten über ihn Bild: StadtASG, Missive 367
Das Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde hat den Briefverkehr («Missiven») der Stadt St.Gallen von 1400 bis 1650 digital erfasst.

Als «Missive des Monats» stellen wir Ihnen jeden ersten Freitag im Monat ein besonders interessantes Schriftstück vor. Anfang Monat ist eine neue Etappe erschienen, nun sind alle Missiven von 1417 bis Anfang 1470 online. Heute widmen wir uns einer neu publizierten Missive aus dem Jahr 1465: Es geht darin um den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs im städtischen Spital.

Schon im Spätmittelalter war Missbrauch schwer nachweisbar und es konnte oft nur mit Befragungen vorgegangen werden. Ein Fall aus dem Jahr 1465 zeigt auf, wie schwierig es war und ist, bei sexuellen Missbrauchsfällen ohne Beweise zu einem Entscheid zu kommen.

Der des Übergriffs beschuldigte Walter Spättig bat in einer Missive den Bürgermeister zu St.Gallen, gegen Gerüchte vorzugehen, die im Spital und in der Stadt über ihn verbreitet würden. Ihm wurde von diversen Leuten vorgeworfen, ein «lahmes» Mädchen im Spital missbraucht zu haben. Um seine angebliche Unschuld zu beweisen, bat er, dass das Mädchen im Haus des Spitalmeisters befragt werde.

Das Mädchen sollte gefragt werden, wer es zur Verbreitung solcher Lügen angestiftet habe. Falls das Mädchen die Aussage verweigern wolle, solle es von Frauen ausserhalb des Spitals untersucht werden. Spättig bat im Brief darum, seinen Fall vor die Spitalkommission (Spitalaussermeister) und den Stadtrat zu bringen.

Der Brief zeigt nur die Sichtweise von Walter Spättig, dem mutmasslichen Täter, auf. Es lag in seinem Interesse, dem Gerücht nachzugehen und seine Unschuld zu beweisen, denn man hatte ihm einen Platz im Heiliggeistspital St.Gallen zugesprochen.

Spitäler des Mittelalters dienten nicht nur der Aufnahme von Kranken, sondern auch als Altersheim. Bei Spättig wird es sich vermutlich um eine ältere Person gehandelt haben, die gegen Bezahlung den Lebensabend im Spital verbringen wollte.

Der weitere Verlauf des Falls ist leider nicht belegt, denn die Protokolle des Spitalaussermeisters sind erst ab 1569 erhalten. Auch sonstige schriftliche Dokumente wie die Ratsprotokolle ab 1477 oder die Gerichtsbücher ab 1490, die in solchen Fällen Auskunft geben könnten, setzen in der Überlieferung erst später als die Missive von 1465 ein.

Ausschnitt aus dem Titelblatt des Gerichtsbuchs resp. der Gerichtssatzungen von 1628 Bild: StadtASG, Altes Archiv, Bd. 554c

Eine zweite Missive aus dem Jahr 1466 liefert allerdings nochmals einige Informationen zum Fall Spättig: Knapp ein Jahr nach Spättigs Brief an den Bürgermeister und Rat baten die an der Tagsatzung in Baden versammelten eidgenössischen Räte darum, Walter Spättig nach seinem Stadtverweis zu begnadigen und ihn wieder ins St.Galler Spital aufzunehmen.

Denn er sei «von etlichen sinen mißgönnern schwarlich und treffenlich verclagt und gen üch mit unwarheit dargeben». Er sei aus dem Spital ausgewiesen worden und habe «us üwer statt und gebiett wichen müsste one schuld und unverdienter sach» – er habe also unschuldig seinen Platz im Spital verloren und sogar die Stadt verlassen müssen. Nun sei er «ein alter krancker man». 

Die eidgenössischen Räte stellten sich also klar auf die Seite von Walter Spättig und hiessen seine Bestrafung durch die St.Galler Obrigkeit nicht gut. Leider wird an keiner Stelle die Sicht des Mädchens wiedergeben.

Wir erfahren aus den zwei Briefen nicht, weshalb der Missbrauchsvorwurf entstand und wie die Untersuchung im Jahr 1465 ausgegangen war. Es ist anzunehmen, dass das Mädchen bei der Befragung den Vorwurf erhärtete, denn die Strafe des Stadtverweises wird der Rat nicht ohne glaubhafte Aussage ausgesprochen haben.

Strafmethoden aus der «Constitutio criminalis Carolina»» von 1577 Bild: Wikimedia Commons, Carolina 37

Es stellt sich die Frage, wie man in St.Gallen mit der Bestrafung einer Vergewaltigung, früher als «Notzucht» betitelt, umging. In St.Gallen waren die Strafen verhältnismässig mild: Laut den ältesten Ratssatzungen im ersten Stadtbuch, das in den ältesten Teilen auf 1312 zurückgeht, wurde Notzucht wie Mord bestraft, nämlich mit einer Geldbusse.

Ausschnitt aus dem Abschnitt zur Notzucht aus dem Stadtsatzungsbuch um 1312 bis 1426: «Von dem notzoge. Und umb den notzog ouch die selben buosse und in dem selben reht als umb das mort» Bild: StadtASG, Altes Archiv, Bd. 538

Im geschilderten Fall von Spättig heisst es, wenn die Befragung zu keinem Ergebnis führe, sollte das Mädchen von ehrbaren Frauen ausserhalb des Spitals untersucht werden. Ab dem 17. Jahrhundert wurden in Strafverfahren bei Vergewaltigungen zunehmend Hebammen miteinbezogen. Diese sollten Verletzungen bei den Mädchen und Frauen feststellen.

Es ist allerdings von einer sehr hohen Dunkelziffer an Vergewaltigungsklagen auszugehen, da viele Vorwürfe gar nicht vor Gericht kamen. Wenn überhaupt konnten nur sozial bessergestellte Frauen eine Vergewaltigung vor Gericht bringen. Frauen mussten vor Gericht beweisen, dass sie sich und ihre Ehre genug verteidigt hätten und mussten bei verlorenem Prozess mit grossem Ehrverlust rechnen.

Im 19. Jahrhundert verfassten die Kantone eigene Strafgesetzbücher, doch der Begriff der «Notzucht» blieb eng, so konnten in der Deutschschweiz nur volljährige Frauen Opfer einer Vergewaltigung werden. Ausserdem ist die Vergewaltigung in der Ehe nach Schweizerischem Strafgesetzbuch erst seit 1994 strafbar und erst seit 2004 ein Offizialdelikt.

Erst seit Juli dieses Jahres können laut Schweizer Sexualstrafrecht sowohl Frauen als auch Männer vergewaltigt werden; der Tatbestand ist neu geschlechterneutral verfasst.

Die erwähnten Missiven Nrn. 367 und 380 sind abrufbar unter: missiven.stadtarchiv.ch/data/stasg_missiv_00367 und missiven.stadtarchiv.ch/data/stasg_missiv_00380

Literatur

Noëmi Schöb / Toggenburg24