Der 1791 geborene Daniel Schlatter, welcher nach einer Lehre bis 1816 in St. Gallen als «Handlungscommis» gearbeitet hatte, besuchte dann kurze Zeit das Missionsseminar in Basel, weil der «pietistisch geprägte» Kaufmann Missionar werden wollte. In den «Jahrbücher der Stadt St. Gallen» von 1823 und 1824 ist von einem «Missionsverein» die Rede. In diesem Zusammenhang wurde 1824 der Mitbürger Daniel Schlatter erwähnt, der 1822 zum ersten Mal ins Gouvernement Taurien im europäischen Russland gereist sei.
Mit dem Tataren-Schlatter im «südlichen Ruβland», Teil 4


Diakon Peter Ehrenzeller (1798-1847) schrieb damals: «Dieser Mann begab sich, seine hiesigen günstigen Verhältnisse verlassend, daselbst in Dienste eines ganz rohen, gemeinen muhammedanischen Tataren, Ali, um gewisse, noch nicht klare Zwecke zu erreichen. Bemerkenswerth sind die Bande, die er, als sehr guter Sohn, bei seiner Trennung hier zerreissen, und ausserordentlich die Strapazen und die fortwährende Abgeneigtheit, die er dort erfahren muβte, so wie die harten Dienste, denen er sich freiwillig unterzieht. [...] Seine standhafte Ausdauer in einem so engen Wirkungskreise, aus dem er sich bisher, selbst durch bedeutende Anerbietungen der englischen Missionsgesellschaften, nicht herauslocken lieβ, scheint wenigstens psychologisch merkwürdig. Sein unmittelbarer Hauptzweck geht jetzt auf Erlernung der Sprache. Das Hauptmittel seiner Wirksamkeit besteht einstweilen blos in dem christlichen Beispiel, die er seiner Herrschaft giebt.» «‘s isch all daa», möchte man dem frommen Diakon Ehrenzeller antworten.
Über Schlatters zweite Reise «nach dem Asowschen Meere», die vom März 1823 bis Oktober 1826 dauerte schrieb Ehrenzeller 1826: «Herr Daniel Schlatter (im Jahrbuch von 1824 als für Missionszwecke reisend bezeichnet) verlieβ im Mai d. J. wieder einmal seinen Aufenthaltsort an der Molocznya (unweit des azow’schen Meeres), besuchte auf langer Seefahrt Konstantinopel und Smyrna, landete in Livorno und kam über Bologna und Mailand im Oktober hieher, um - nach kurzem Verweilen - nach dem Neujahr über London wieder in seine neue Heimath zurückzukehren. In Konstantinopel langte er eben nach dem berüchtigtem Brande an, der einen (übrigens kleinen) Theil der Stadt in Asche gelegt hatte. Merkwürdig war das selbstverfertigte tatarische Wörterbuch, nebst Grammatik, und die Abbildungen tatarischer Wohnungen und Kostüme, die er mitbrachte und deren Anschauung er mit anziehender Erzählung und Charakteristik begleitete.»
VON ODESSA AUF DIE KRIM
Im Frühjahr 1825, auf dieser zweiten Reise, segelte Schlatter von Odessa aus mit dem «russischen Zweimaster St. Nikolaus, welcher Bomben und Kugeln geladen hatte», nach Kertsch. «Im Hafen angelandet, ward ich von einem Mauthbeamten, einem Landsmann aus der französischen Schweiz gebürtig, gar schnell mit meinem Koffer befördert, und so zogen wir jetzt in der sehr lebhaften Seestadt ein. Ich frug einen teutsch gekleideten Vorübergehenden nach einem Gasthofe, und fand an ihm selbst den Inhaber eines solchen und - wie stieg mein Erstaunen! - einen Sanktgallner.»
SANKTGALLER AUF DER KRIM UND IM SÜDLICHEN RUSSLAND
In Kertsch lebte damals Leonhard Weyermann (1795-1829); er war Gastwirt und verheiratet. Sein Vater war der Kaufmann Leonhard Weyermann (1768-1829); dessen Frau war Catharina Weydenmann (1766-1829). Im Jahrbuch von 1830 steht dazu, es seien 1829 in Kertsch verstorben Catharina Weyermann und ihr Mann Leonhard sowie deren Sohn Leonhard. «Der Todtenschein dieser drei, im Raume eines Monats durch ein hiziges Fieber (wahrscheinlich durch die grassierende Cholera) hingerafften Mitbürger, ist vom 19. Oktober 1830 datiert, und als aus der infizierten Region herkommend, durchstochen und durchräuchert.»

Ein zweiter Sohn des Ehepaares Weyermann-Weydenmann war Johann Jakob (1796-1848), der in Theodosia (Feodosia, Feodossija) eine Wirtschaft betrieb und dort 1848 starb. Schlatter besuchte dann auch den Seehafen von Feodosia und die Schweizerkolonie Zürichthal. Ob er in Kertsch oder in Feodosia einen dieser «Sanktgallner» getroffen hat?
Ein anderer Sanktgaller war Laurenz Steinmann (1798-1863). Er hatte in Augsburg Posamenter (Posament: Borte, Schnur, Quaste) gelernt und sich 1819 nach Sankt Petersburg begeben. Dort wurde er durch Vermittlung des Predigers Ignaz Lindl (1774-1845) «am russischen Hofe sehr wohl aufgenommen». Er kehrte 1820 nach St. Gallen zurück und ging nach Basel, «um im dasigen Missions-Hause auf Kosten Kaiser Alexanders I. zu studieren». Er wurde Missionar und im Mai 1825 in Odessa als Pfarrvikar ordiniert. Von 1826 bis 1828 war er Pastor in Hochstädt im Gouvernement Taurien und seit Januar 1828 Pastor in Josefsthal im Gouvernement Jekaterinoslaw, wo er 1863 starb. Laurenz Steinmann heiratete 1828 Hiacinte von Heimleth, deren Vater Hofrat in Odessa war. Es ist möglich, dass Schlatter diesen «Mitbürger» einmal getroffen hat.
ENDGÜLTIG IN ST. GALLEN
Daniel Schlatter kehrte im Oktober 1826, nach seiner zweiten Reise, nach St. Gallen zurück. Seine dritte Reise «nach dem Asowschen Meere» dauerte von Januar 1827 bis Oktober 1828. Dann kehrte er endgültig nach Hause zurück. Er arbeitete als Buchhalter und heiratete 1830 Marie Elisabeth Mayer (1803-1835). Das Ehepaar hatte einen Sohn, der in Erinnerung an den Freund Ali-Amentow und dessen Sohn Abdullah (1832-1874) genannt wurde. - Nach dem frühen Tode seiner ersten Frau ehelichte Schlatter 1839 seine Cousine Henriette Schlatter (1802-1883).
In ihren Erzählungen «Durchs Fenster» von 1905 schrieb die Schriftstellerin Dora Schlatter (1855-1915) auch über ihren Onkel Daniel. Innerlich und feurig sei er gewesen, habe sich eher ab- als aufgeschlossen. «Er war viele Jahre Buchhalter in einem groβen Geschäft, und wandelte wie eine Uhr seine Straβe hin und zurück. Immer trug er eine müllergraue Kleidung und einen steifen, schwarzen Cylinder. Warum er diese steife Gewandung sich angeeignet, weiβ ich nicht. Von Interesse dafür war keine Spur vorhanden. Immer hielt er im Gehen die Hände auf dem Rücken, und oft bewegte er seine Lippen in leiser Rede. Man nannte ihn den Tartaren-Schlatter [sic ]. Seine schönsten Jugendjahre hatte er am südlichen Don zugebracht, unter den Tartaren, denen er das Evangelium bringen wollte, nicht predigend, sondern vorlebend.» Nach seinen «schönsten Jugendjahren» unter den Tataren und der Veröffentlichung seines grossen Werks 1830 soll er später nicht mehr davon gesprochen haben.
Daniel Schlatter weihte dann, nach Dora Schlatter, «sein Leben lang seine Freizeit und all sein Geld» den Fragen, «in wie weit, nach seinem Ermessen, die Weissagungen der Offenbarung Johannis in Erfüllung gegangen seien oder nicht. Zu diesem Zweck hatte er sich ein ungeheures Material gesammelt.» Im Alter von 75 Jahren unternahm er noch eine anderthalbmonatige Pilgerfahrt ins Heilige Land. Er starb 1870 in St. Gallen.