«Das Weihnachtsfest war immer schon vielen Missverständnissen ausgesetzt. Oberflächlichkeiten, familiäre Geborgenheit, idyllische Krippenspielerei u. a. m. haben den Blick verstellt für das ungeheure Geschehen, von dem dieses Fest Zeugnis gibt.
In diesem Jahr (1944) sind die Versuchungen zum Idyll wohl weniger gross.
Die Härte und Kälte des Lebens hat uns mit früher unverstellbarer Wucht gepackt. Und mancher, dessen Wohnung nicht einmal den Kälteschutz des Stalles von Bethlehem mehr aufbringt, vergisst die Idylle von Ochs und Esel und kommt vielleicht vor die Frage, was nun eigentlich geschehen sei. Ist die Welt schöner geworden, ist das Leben heilbar geworden, weil Weihnachten war, weil die Engel nun in aller Offenheit und Öffentlichkeit ihr Gloria gesungen haben, weil die Hirten staunten und liefen und anbeteten, weil ein König erschrak und die Kinder tötete?
Man muss gerade Weihnachten mit einem grossen Realismus feiern, sonst erwartet das Gemüt Wandlungen, für die der Verstand keine Begründungen weiss. Und das Ergebnis des tröstlichsten aller Feste kann gerade heute eine bittere Enttäuschung und lähmende Müdigkeit sein.
Der Gott, dessen Ankunft wir feiern, bleibt der Gott der Verheissung.
Das ist eine der tragenden und zugleich quälenden Spannungen unseres Daseins: dass der Mensch vieles weiss und vernommen hat und doch keine Herberge findet. So gerne möchte der Mensch immer wieder das Gewusste als Endgültiges betrachten und in ihm zu Hause sein und sich fest ansiedeln. Und immer wieder überkommt ihn zunächst die Vermutung, die oft sehr unangenehme Ahnung, dass der Weg noch nicht zu Ende ist.
Immer wieder offenbart sich die Wirklichkeit, die man gerade hat und begriffen und ergriffen hat, auf die Dauer als Zeichen eines hinter ihr Geltenden und durch es Rufenden. Der Mensch muss weiter, muss wandern, um den Preis seines Lebens. Ein zu frühes Halt wäre zugleich sein Tod, sein metaphysischer und religiöser Ruin.
Der Mensch soll bedenken, dass wir das Fest der Mensch-Werdung Gottes begehen, noch nicht das Fest der relativen Vergöttlichung des Menschen. Diese hebt an, aber im menschlichen Raum und im irdischen Geschehen.
Es ist die unbegreifliche Tatsache, dass Gott in unsere Geschichte eingeht, dass er in unser Gesetz, in unsere Räume, in unsere Existenz eintritt: nicht nur wie, sondern als einer von uns. Das ist das Erregende und Unfassliche dieses Geschehens.
Die Geschichte wird nun auch zur Daseinsweise des Sohnes, das geschichtliche Schicksal sein Schicksal. Er ist auf unseren Strassen anzutreffen. In den dunkelsten Kellern und den einsamsten Kerkern des Lebens werden wir ihn treffen. Die Nähe Gottes ist eine suchende Nähe, und wer von dieser Nähe erfahren hat, wird zugleich in die Unermüdlichkeit, mit der Gott zum Menschen drängt, mit hineingerissen. Und hat in der begnadeten Unruhe zum Menschen hin zugleich ein Anzeichen, wie viel er verstanden hat vom eigentlichen Geheimnis, das zwischen Gott und dem Menschen gilt.
Man muss das Evangelium einmal menschlich lesen. Menschlich durchdenken.
Das heisst, es als Bericht aus dem Leben von Maria verstehen. Wir wissen immer schon das Ergebnis, die Lösung und Erlösung mit. Aber das waren doch Stunden und Tage, die durchgestanden werden wollten.
Für Joseph war der Glaube an einen Menschen infrage gestellt. Aber für Maria! Sie hatte sich doch Gott geschenkt. Ihr Ja war vorbehaltlos und bedingungslos. An sie war das Wort ergangen in einer eminenten Weise, wie es an kein Geschöpf je mehr ergehen sollte. Und nun schwieg Gott. Sie spürte die fragenden Augen des Mannes. Sie litt die Qual des treuen Herzens und das Leid und die Enttäuschung des Gerechten mit. Und Gott liess sie zunächst allein in diesen Stunden, unter diesen Lasten.
Immer wieder unser Schicksal: Da haben wir Verheissungen gehört und Botschaften geglaubt und Sendungen gespürt, und plötzlich hängen wir allein im Schicksal.
Das passiert so im Menschenleben. Auch im Christenleben? Sollte es nicht gerade da ganz anders sein und ganz gelten? Aber es ist so. Und gerade dies sind die Entscheidungsstunden für den Wert und Unwert unseres gläubigen Daseins. Wider das Zeugnis der Steine, an die unser Fuss gestossen, wider das Zeugnis der Geisseln, die uns blutig geschlagen, wider das Zeugnis der Ketten, die uns binden, im Wort bleiben, unerschüttert und unermüdet stehen bleiben: Das ist die grosse Antwort, die ein Mensch Gott geben kann. Und nach der Gott jeden Menschen fragen wird. Jeden. Es wird keinem geschenkt, der wach und erwachsen vor Gott dem Herrn gelten soll.
Hundertfältig stellt Gott heute diese Frage.
Dass wir fähig seien, die Antwort zu geben. Die Tugend der Unermüdlichkeit ist anstrengend. Aber sie erst macht den Menschen gottesfähig. Und öffnet ihm auch die Augen für die eigentliche Wirklichkeit Gottes. Und wo dies vom Menschen ehrlich versucht wird, da gewinnt die Welt ein neues Gesicht. Die starren Züge innerweltlicher Kausalität, logischer Verknüpfung und Notwendigkeit lösen sich. Das Antlitz der Welt und des Lebens wird mütterlicher und väterlicher.
Es beginnt jenes Geheimnis der hundert kleinen Aufmerksamkeiten, mit dem Gott den Menschen umsorgt.
Die Dinge und Zusammenhänge bleiben in ihrem Lauf und in ihrer Sicherheit, und doch geschieht in ihnen und ihrer leisen Abstimmung zu einem neuen Ergebnis die väterliche Sorge, die Gott denen zuwendet, die seinen Fragen gewachsen waren. Der Mensch erfährt auf einmal, dass der Lauf der Welt nicht mehr seinen universalen Anblick hat und seine allgemeine Gültigkeit, sondern dass die Dinge mehrdeutig und mehrwertig sind.
Im persönlichen Dialog zwischen Gott und dem Menschen, der Höchstform menschlichen Lebens, haben die Ereignisse einen ganz anderen Stellenwert als im Allgemeinen Geschehen. Und beides geschieht zu Recht: dass der eine nur eine banale Alltäglichkeit bemerkt und dem andern das gleiche Geschehen ein Zeichen der Erbarmnis und der Führung ist. Als Letztes gilt:
Der Mensch ist nicht mehr allein.
Der Monolog war nie die gesunde und glückhafte Lebensform des Menschen. Der Mensch lebt nur echt und gesund im Dialog. Alle diese Mono-Tendenzen sind vom Übel. Aber dass das Bestehen der Spannungen des Daseins und der Lasten Gottes den Menschen nun in den Dialog mit Gott beruft, das überwindet die schrecklichste menschliche Krankheit: die Einsamkeit, endgültig und wirklich.
Es gibt nun keine Nächte mehr ohne Licht, keine Gefängniszellen ohne echtes Gespräch, keine einsamen Bergpfade und gefährlichen Schluchtwege ohne Begleitung und Führung. Gott ist mit uns: So war es verheissen, so haben wir geweint und gefleht. Und so ist es seinsmässig und lebensmässig wirklich geworden: ganz anders, viel erfüllter und zugleich viel einfacher, als wir meinten.
Gott wird Mensch. Der Mensch nicht Gott.
Die Menschenordnung bleibt und bleibt verpflichtend. Aber sie ist geweiht. Und der Mensch ist mehr und mächtiger geworden. Lasst uns dem Leben trauen, weil diese Nacht das Licht bringen musste. Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt.»