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Kommentar
Magazin
07.09.2022
07.09.2022 07:41 Uhr

Verkehrte Welt...

Bild: pixabay.com
Die Gesellschaft ist eine Meisterin des Verdrängens. Und der Schuldzuweisungen. Es wird Zeit, in den Spiegel zu schauen.

Die Menschen sind voller Widersprüche. Hinter der Maske von Nächstenliebe, Verständnis und Toleranz verbirgt sich eine ganze andere Seite. Es wird gerichtet, verurteilt, anderen vorgeschrieben, was sie zu tun und zu lassen haben. Nur die eigene Ideologie ist die richtige. Statt vor der eigenen, guten alten Haustüre zu kehren, werden die Fehler bei den anderen gesucht...

Wir sind für die Massentierhaltungs-Initiative, wollen aber (fast) täglich Fleisch essen, springen Fleisch-Aktionen hinterher und «Fleisch-Discounter» florieren...

Wir empören uns über das «Lädelisterben» und das Online-Shopping, fahren aber über die Grenze, weil dort das Schampoo (vermeintlich) 1 Franken günstiger ist...

Wir verfluchen jeden Neubau, wo ein altes Haus einem Mehrfamilien-Komplex weichen muss, wohnen aber selber in einer Überbauung, wo zuvor einmal eine grüne Wiese war...

Wir ärgern uns über ein, zwei, drei Kilos zu viel an den Rippen, suchen aber alle den Parkplatz, der am nächsten zum Eingang von Migros und Coop liegt – oder vom Fitness-Center...

Propagieren E-Autos als die ökologische Wunderlösung – machen uns aber keine Gedanken darüber, woher der Strom aus der Steckdose wohl kommt und wie die Batterie am Ende ihrer Lebenszeit sinnvoll entsorgt wird...

Empören uns über die traurige Geschichte der Verdingkinder in der Schweiz, bestellen aber munter Billig-Kleider aus Fernost, die durch Kinderhände gefertigt wurden...

Echauffieren uns über die stetig steigenden Krankenkassen-Prämien, gehen aber wegen jedem Husten zum Arzt, statt mal in die Apotheke zu gehen und einen Hustensirup auf eigene Kosten zu kaufen...

Schreien nach einer autofreien Innenstadt, kaufen aber Chia-Samen und Goji-Beeren von Übersee im Reformhaus um die Ecke...

Die Friday-for-Future-Bewegung beschimpft die ältere Generation, hinterlässt aber nach Demos (oder Parties wie der Street Parade) einen tonnenschweren Abfallberg...

Will die Pracht der Natur geniessen, hinterlässt aber den Abfall vom Picknick in den Bergen...

Will eine Multi-Kulti-Gesellschaft, stört sich aber ob der "kulturellen Aneignung"...

Empört sich über den Begriff "Mohrenkopf" und "Tschingg", wettert aber über die "Jugos"...

Bemängelt die Arbeit der Schweizer Presse, ist aber nicht gewillt, für journalistische Arbeit zu bezahlen...

Hetzt jedem Schnäppchen-Angebot hinterher, wundert sich aber, wenn es Ende Jahr keine Lohnerhöhung gibt...

Man gibt sich vermeintlich weltoffen, verständnisvoll, liberal und will die Welt zu einem besseren Ort machen. Doch letzten Endes ist sich Jede und Jeder einfach am nächsten.

Es ist an der Zeit, sich selbst und die eigene Haltung ehrlich zu hinterfragen und sich einzugestehen: Ist es richtig, mit dem Finger auf andere zu zeigen? Habe ich meine Hausaufgaben wirklich gemacht? Steht es mir zu, andere zu beurteilen, zu kritisieren oder zu verurteilen?

Ich wünsche mir für uns alle, dass wir wieder mehr Verständnis füreinander und für das "andere" aufbringen. Uns die Zeit nehmen, beide Seiten anzuhören und sich vor allem auch allen Facetten eines Themas zu öffnen und sich verschiedener Quellen zu bedienen.

Jemand hat mir einmal gesagt: «Es gibt immer zwei Seiten der Wahrheit.» Damals wollte ich das nicht verstehen. Heute weiss ich: Genau so ist es.

Barbara Tudor